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Zentrum Geschichte des Wissens

Universitaet Zuerich

Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich

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ARIANE TANNER (2009-2010)

Die Fische in der Formel. Populationsdynamik und die Mathematisierung der Biologie, 1920-1940

 

Wie kam es, dass ein italienischer Physiker und Mathematiker in Rom (Vito Volterra, 1860-1940) und ein Chemiker und Versicherungsstatistiker österreichisch-ungarischer Herkunft in New York (Alfred James Lotka, 1880-1949) gleichzeitig und unabhängig voneinander populationsdynamische Gesetze formulierten? Diese Gesetze vermögen in einem einfachen Räuber-Beute-Verhältnis die anzahlmässige Entwicklung von zwei konkurrierenden Arten vorauszusagen. Während Volterra aufgrund von Fischverkaufszahlen von italienischen Fischmärkten die Veränderungen von Populationen mathematisch modellierte, bilden bei Lotka dieselben Differentialgleichungen einen Teil eines umfassenden Systems über globale Ressourcenverteilung im biologischen und ökonomischen Bereich. Beide behaupten, mit diesen Gesetzen Aussagen über den Gang der Evolution machen zu können.

Die Dissertation hinterfragt, gestützt auf eine mikrohistorische Untersuchung der Praxis der beiden Forscher, deren Anspruch, durch diese Gesetze kausale Erklärungen über natürliche Prozesse geben und mathematische Voraussagen machen zu können. Wie gestaltete sich das Verhältnis von Empirie und Theorie in den Forschungen von Volterra und Lotka? Auf welchen Daten basierte die Formulierung der Gesetze? Welches Wissen hatten sie über biologische Prozesse und Tiere? Wie lässt sich die gleichzeitige und unabhängige ‚Entdeckung' derselben Formeln erklären?
Seit 1900 bemühten sich Wissenschafter in den biologischen Disziplinen verstärkt um eine theoretische Grundlegung. Während die Quantifizierung und die statistische Auswertung von Daten schon etwas etabliert war, intensivierten sich mit der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze die mathematischen Anwendungen in der Biologie, allen voran der Populationsgenetik. Wie lassen sich die Lotka-Volterra-Gesetze vor dem Hintergrund disziplinärer Abgrenzungs- und Legitimationsversuche in der Biologie deuten? Was ist der Mehrwert einer mathematischen Beschreibung von populationsdynamischen Prozessen? Die Formeln von Lotka und Volterra abstrahieren von allen Umwelteinflüssen und den vielfältigen Interaktionen. Dies könnte erklären, weshalb die Rezeption der Gesetze in erster Linie durch die Ökonomie, Demographie und Systemtheorie stattfand und erst in zweiter Linie durch die biologischen Wissenschaften.

key words: Populationsdynamik – Mathematisierung – Evolutionstheorie – Empirie-Theorie – Biologiegeschichte – Alfred James Lotka – Vito Volterra